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Über das Wesen der Vorzugsstimmen im Wahlrecht

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Bis vor kurzem war ich recht überzeugt, dass der zuletzt in Deutschland vorherrschende Trend zu Vorzugsstimmen im Wahlrecht (z.B. Bremen, Hamburg) eine gute Sache ist. Beim Lesen von Robert Putnams “Making Democracy Work” bin ich auf eine Beobachtung aus Italien gestoßen, die mich nachdenklicher macht. In diesem ausgezeichneten Buch beschreibt Putnam, wie die Möglichkeit der personalisierten Vorzugsstimmen in Süditalien signifikant stärker wahrgenommen wird (oder zumindest wahrgenommen wurde) als im Norden, wo die Wähler weitgehend die bestehenden Listen unterstützen.

Putnam erklärt diesen extremen Unterschied damit, dass Wähler in Süditalien v.a. über Patron-Verhältnisse gegenüber ihren Abgeordneten verfügen. Weil es weniger “soziales Kapital” unter den Bürgern im Süden gibt, verbleibt ihnen für die Lösung ihrer täglichen Probleme in erster Linie der Gang zum “eigenen” Abgeordneten. Andere Institutionen wie staatliche Einrichtungen sind zu schwach und horizontale Kontakte (z.B. über ein Engagement in Vereinen) bestehen kaum. Putnam weist durch seine Umfragen sogar nach, dass süditalienische Abgeordnete völlig andere Aufgaben in ihrer Wahlkreisarbeit wahrnehmen als jene aus dem Norden. Dazu gehört die Suche nach Jobs genauso wie die Hilfe beim Erlangen von Lizenzen oder anderer Behördengänge.

Weil den Wählern in Süditalien nicht anders/besser über funktionierende staatliche Institutionen geholfen wurde, blieb ihnen in der Wahrnehmung nur der direkte Weg zum Abgeordneten. Dieser wiederum kann durch seine Rolle als Patron für tägliche Probleme seine besondere Stellung in einer vertikalen Machtkonstellation mit den Bürgern weiter verstärken. Putnam nennt das “patron-client exchang relationship” (S. 94) und elitär. Natürlich ist ein solches System extrem korruptionsanfällig, es schwächt eine aktive Zivilgesellschaft oder zerstört sie gar.

Nun ist die Kausalitätskette natürlich nicht so, dass die Vorzugsstimme zu einer Verarmung des Sozialkapitals in der süditalienischen Gesellschaft geführt hat. Sie ist Ausdruck dieser. Gleichzeitig ist sie aber eine Warnung an Wahlrechtsreformer. Wenn in Regionen oder Teilgesellschaften ähnliche gesellschaftliche Konstellationen bestehen oder zunehmen, würde ein Wahlrecht, das sich auf Vorzugsstimmen stützt, also möglicherweise zu einer Verschärfung der Probleme führen, weil Bürger und Abgeordnete nicht mehr voneinander emanzipieren. Vielleicht ist dies eh seit langem in der bayrischen Provinz der Fall. In Bremen und Hamburg ist eine andere (oder ähnliche?) Entwicklung zu beobachten. So waren es v.a. Politiker mit Migrationshintergrund, die vom  Vorzugsstimmen-Wahlrecht profitieren konnten, in dem sie sich gegenüber den für sie vorgesehenen Listenplätzen deutlich verbessern konnten. Andererseits mag genau dies auch erst eine faire Repräsentation von Deutschen mit Migrationshintergrund in diesen Parlamenten befördert haben.

Natürlich öffnet das neue Wahlrecht auch Chancen, in dem den Bürgern eine größere Wahl gelassen wird. Wer allerdings das Umfeld, in dem dies geschieht, nicht beachtet, darf sich letztlich nicht wundern, wenn ein solches Wahlrecht strukturelle gesellschaftliche Probleme noch verstärkt (wie die Unterrpräsentation von Frauen in Parlamenten).

Disclaimer: die Infos zum preferential voting finden sich u.a. auf S. 94f in der englischen Ausgabe


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